Wir sind auf der Autobahn, auf dem Weg nach Deutschland. Ich bin traurig, versuche mir für den Moment jedoch nichts anmerken zu lassen, doch bei Tobias gelingt es mir nicht. Ich schaue aus dem Fenster um meine Tränen zu unterdrücken und das letzte Mal in die Berge zu schauen. Er nimmt meine Hand und fährt ohne ein Wort zu sagen über die Grenze. Da sind wir nun wieder.. in Deutschland. Die letzten 14 Tage waren Balsam für die Seele, Leopold sah seine erste Kuh, kicherte sich kaputt, Leni stand bis zu den Knien in Kuhfladen und Tobi und ich genossen die Zeit und die Berge in vollen Zügen. Doch jetzt hat uns der Alltag wieder. Die Gedanken schießen wieder sofort in mir hoch und wieder beschäftigt sich mein Kopf mit der Frage: „Was ist da in meinem Körper?“.. Viel Zeit um darüber nachzudenken habe ich nicht. Leopolds 1. Geburtstag steht an. Wie auch für Leni legen wir uns so richtig ins Zeug. Es gibt Torte, Wunderkerzen und ganz viel Liebe. Zur Feier des Tages fuhr ein FC Bayern München Bobby Car ins Wohnzimmer rein. Opa Michi‘s Lieblingsverein, das zeigt er gerne auch seinen Enkelkindern. Noch bevor die ersten Worte gesprochen werden, wird die Hymne des FC gelernt :).. So sehr wir uns den Tag freuten, gingen mir plötzlich 1000 Sachen durch den Kopf. Jetzt steht ein Bobby Car da, in 17 Jahren dann ein Auto.. „Wie meistert Leo das dann? Ein Schaltauto kommt nicht in Frage. Gibt es da denn spezielle Lenkhilfen? Wie meistert er eigentlich verschiedene Sporteinheiten in der Schule? Wie klettert er denn mit einem steifen Arm den Baum hoch? Wie fängt er einen Ball und wie isst er später in einem Restaurant? Wie zieht er sich denn an?“ Ich laufe ins Bad, stelle mich vor den Spiegel.. da ist es wieder.. warum überrennen mich diese Gedanken jetzt plötzlich? Ich war doch immer die, die sagt, er meistert alles mit „links“.. warum heute? Warum zu seinem Geburtstag? Ich fühle mich so schwach, ich strenge mich dennoch an, alles perfekt an diesem Tag zu meistern. Es gelingt uns Gott sei Dank, Leopold bekommt einen wundervollen 1. Geburtstag.. Doch wie lange kann ich das noch aushalten? Meine Baustellen und meine Ängste in meinem Kopf werden immer größer. Ich befolge kurz darauf den Rat der Klinik und suche einen Neurologen auf. Ein toller Arzt, ein wunderbarer Mensch und ob ihr es glaubt oder nicht.. er redet! Er erklärt mir viele Sachen, beruhigt mich mit seinen klaren Worten und gibt mir das Gefühl, dass ich nun ernst genommen werde. Meinen Wunsch nach einem MRT wird nachgegangen. Die Auswertung fand kurz darauf bei ihm in der Praxis statt. „Gute Nachrichten“, begrüßte er mich.. „Sie haben noch kein MS“.. ich war wie versteinert. „Was heißt denn hier NOCH?“, warf ich ihm entgegen.. Er erklärt mir, dass wir die Diagnose im Moment als CIS (klinisch isoliertes Syndrom) einstufen, was bedeutet, dass bei mir Anzeichen einer MS da sind, aber die Befunde nicht dafür sprechen. Es handelt sich dabei um eine „Vorstufe“ der MS.. Klinische Studien belegen, dass sich bei ca. 60% der CIS- Patienten im Laufe des Lebens eine MS entwickeln kann. Ich sollte also das jetzt erst einmal so mitnehmen und mir keine weiteren Gedanken machen.. Er wiederholte nochmals, dass ich im Moment kein MS habe. Natürlich wird es ab nun engmaschig kontrolliert, durch weitere MRT der Wirbelsäule und des Schädels.In meinem Kopf bewegt sich die Zahl 60% immer hin und her. Dennoch versuche ich mir selbst zu sagen, dass im Moment alles gut ist.. ich schiebe es im Kopf also ganz nach hinten, denn jetzt steht bald Weihnachten vor der Tür. Wir erleben, wenn auch durch die Corona Regeln ein etwas anderes, aber dennoch schönes und besinnliches Weihnachtsfest mit einem tollen Rutsch ins neue Jahr, mit ganz vielen Wünschen, Vorsätzen und dem Satz: „Auf das 2021 besser wird!“ Leopold krabbelt inzwischen munter durchs Haus. Nie im Leben hätten wir gedacht, dass er krabbeln wird. Unvorstellbar! Doch er meistert mit seinen eigenen Methoden wirklich alles wunderbar. Wir sind so stolz auf ihn. Uns geht es gut, wir sind glücklich. Dann kam mein nächstes Kontroll-MRT und ein vollkommen anderer Befund. Jetzt verstand ich gar nichts mehr..
